20.07.2015

Wie in Babylon nach der Sprachverwirrung

Die Internationale Klasse mit Klassenlehrerin Eleanna Anastasiou und Sozialarbeiter Guido Ramsauer

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Würden alle gleichzeitig in ihrer Muttersprache reden, käme man sich vor wie auf dem Marktplatz von Babylon, unmittelbar nach der Sprach–verwirrung. Zu hören wären Italienisch, Russisch, Spanisch in mehreren Akzenten, Polnisch, Bulgarisch, Indisch, Portugiesisch, Englisch und Chinesisch. Aber wenn geordnet miteinander gesprochen wird, dann auf Deutsch. Dafür sorgt die Klassenlehrerin Eleanna Anastasiou. Wahlweise auf Deutsch, Griechisch, Englisch, Spanisch, Italienisch oder Französisch – jenen Sprachen, die sie fließend beherrscht.

Die Rede ist von der Auffangklasse für Kinder aus Migrantenfamilien, die vor einem Jahr am Woeste-Gymnasium eingerichtet worden ist – oder besser gesagt, werden musste. Jede Kommune ist nämlich verpflichtet, eine sogenannte Zielschule vorzuhalten, an der Kinder unterrichtet werden, die mit ihren Familien in die Stadt ziehen und noch keinerlei deutsche Sprachkenntnisse besitzen. Neu ist das nicht, und in der Vergangenheit war es in Hemer die Hauptschule, die diese Aufgabe erledigte. Nachdem die Märkische Schule aber bekanntlich ausläuft, musste mit dem Gymnasium eine neue Lösung gefunden werden.

Weil die Einrichtung dieser Internationalen Klasse eine außerordentliche Belastung darstellt, wurde das Gymnasium zum Ausgleich weitgehend von der Pflicht befreit, im Rahmen der Inklusion behinderte Kinder aufzunehmen. Diese gehen nun zur Realschule und zur Gesamtschule.

Mit 6 Kindern ging es los, zwischenzeitlich waren es 30

Sechs Kinder und Jugendliche waren vor einem Jahr zu Beginn des Unterrichtes für die Auffangklasse angemeldet. Weil aber das ganze Jahr über immer wieder neue ausländische Familien nach Hemer ziehen, steht deren Kindern die Tür zur Internationalen Klasse jederzeit offen. Ehe sich die Verantwortlichen an der Schule versahen, hatte sich deshalb die Zahl zweimal verdoppelt. Sogar 30 Kinder der Jahrgangsstufen 5 bis 9 wurden kurzfristig in dieser Klasse unterrichtet. Inzwischen ist die Klassenstärke auf 20 zurückgegangen, weil Familien wieder aus Hemer fortgezogen sind. Niemand weiß aber genau, wie sich die Situation im nächsten Schuljahr entwickelt.

Es sind übrigens keine Kinder aus der Flüchtlingsunterkunft in Deilinghofen, die die Internationale Klasse besuchen, sondern nur solche aus Familien, die ihren festen Wohnsitz in Hemer haben. Das können zwar durchaus Flüchtlinge sein, aber auch Kinder, deren Eltern nach Deutschland gezogen sind, um hier zu arbeiten. Voraussetzungen für die Aufnahme in der Klasse sind lediglich fehlende Deutschkenntnisse und eine bereits absolvierte Grundschulausbildung.

Schritt für Schritt Integration in den normalen Unterricht

Am Woeste-Gymnasium gab es vor einem Jahr keinerlei Erfahrungen im Umgang mit einem solchen Projekt. Schulleiter Ulrich Vielhauer: „Wir mussten für uns das Rad neu erfinden.“ Vielhauer und alle anderen Verantwortlichen der Schule hielten es für wenig sinnvoll, die ausländischen Kinder ständig von den anderen Schülerinnen und Schüler zu separieren. So wurden alle neben der Internationalen Klasse auch einer regulären Klasse zugeordnet, in der sie an Teilen des Unterrichtes teilnehmen.

Zumeist beginnt das mit dem Sport. Dort genügen schon wenige Worte Deutsch, damit sich die ausländischen Kinder mit der Lehrkraft und den Mitschülern verständigen können und umgekehrt. Wachsen die Sprachkenntnisse, kommen nach und nach andere Fächer dazu: Kunst und Musik, anschließend Mathematik und die Naturwissenschaften. Am längsten dauert die Integration erfahrungsgemäß bei den Geisteswissenschaften, die eine besonders hohe Sprachkompetenz erfordern. Dennoch bleibt es das Ziel, möglichst kein Kind länger als zwölf Monate in der Auffangklasse zu belassen.

Ob die Schülerinnen und Schüler anschließend auf dem Gymnasium bleiben oder zu einer anderen Schule wechseln, wird individuell nach dem jeweiligen Leistungsstand und Leistungsvermögen entschieden. Ulrich Vielhauer: „Wir wissen aber jetzt schon, dass wir mehrere Schüler aus der Internationalen Klasse bestimmt zum Abitur bringen können.“ Die Defizite, die diese Kinder und Jugendlichen in der deutschen Sprache aufweisen, werden bei einigen dadurch ausgeglichen, dass die obligatorische zweite Fremdsprache ihre Muttersprache und die Hürde in diesem Fach für sie extrem niedrig ist.

Wenn die ausländischen Kinder gemeinsam unterrichtet werden steht vor allem „DaF“ auf dem Stundenplan – das heißt Deutsch als Fremdsprache. Der Lehransatz ist in diesem Fall ein völlig anderer, als im üblichen Deutschunterricht. Dass sich mit Eleanna Anastasiou eine junge Lehrerin im Kollegium gefunden hat, die so außergewöhnlich viele Fremdsprachen spricht, war natürlich ein ausgesprochener Glücksfall. Doch auch sie stößt in der Internationalen Klasse mitunter an ihre Grenzen und muss sich etwas einfallen lassen. Bei den Russisch sprechenden Schülern konnte sie sich auf die Hilfe eines Bekannten stützen, rudimentäre Kenntnisse mancher Sprachen bezog sie aus dem Internet. Doch spätestens beim Arabischen oder Chinesischen wurde auch das wegen der völlig anderen Schriftzeichen nahezu unmöglich. Dann mussten Anfangs die berühmten „Hände und Füße“ bei der Verständigung mit eingesetzt werden.

Schüler aus anderen Klassen helfen bei Sprachproblemen

Mitunter ist Hilfe in unmittelbarer Nähe zu finden. Ältere Schüler mit ausländischen Wurzeln und entsprechenden Sprachkenntnissen aus anderen Klassen sind immer wieder ein wichtiger Rückhalt bei der Kommunikation mit der Internationalen Klasse. Überhaupt hat das Kollegium festgestellt, dass die Kinder am schnellsten Deutsch lernen, wenn sie viel mit Altersgenossen zusammen sind.

So erfreulich viele Erfahrungen mit der Internationalen Klasse im ersten Jahr gewesen sind, Ulrich Vielhauer verhehlt nicht, dass es häufig erhebliche Schwierigkeiten auftreten und die Belastungen für das Kollegium enorm sind. „Natürlich gibt es immer wieder Probleme mit der Disziplin“, räumt der Schulleiter ein. Das beginnt mit Tugenden wie Ordnung und Pünktlichkeit. Auch der Gedanke, dass die Teilnahme am Unterricht verpflichtend ist, musste in einige Köpfe von Eltern und Kindern erst eingepflanzt werden. Gerade durch den ständigen Wechsel zwischen der Internationalen und den Regelklassen boten sich für notorische Schwänzer immer wieder Gelegenheiten zu entwischen. Mittlerweile ist aber durch ein speziellen System von Anwesenheitslisten eine bessere Kontrolle gewährleistet.

Auch Rivalitäten und mitunter heftige Aggressionen unter den Nationalitäten treten – gerade bei Neulingen – gelegentlich auf. Eine wichtige Stütze bei der Lösung solcher Probleme ist Guido Ramsauer. Der Mitarbeiter des Jugendamtes wurde mit einem zusätzlichen Stundenkontingent als Schulsozialarbeiter eigens der Internationalen Klasse zugeordnet. „Er ist für uns unverzichtbar“, betont Ulrich Vielhauer und spricht dem städtischen Schul- und Sozialdezernenten Klaus Erdmann ein dickes Lob aus. „Er hat die Internationale Klasse zu einem ganz persönlichen Anliegen gemacht und hilft uns, wo er nur kann.“

Mit Spannung wartet das Kollegium darauf, wie es nach den Ferien weitergeht, vor allem, wie viele frisch aus dem Ausland zugezogene Kinder im Laufe des Schuljahres im wahrsten Sinne des Wortes aufgefangen werden müssen. Ulrich Vielhauer: „Uns allen ist bewusst, dass wir eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe erfüllen. Das hilft uns dabei, Schwierigkeiten anzunehmen und zu meistern.“

Fotos und Text: Reinhard Köster / IKZ vom 30.06.2015


Letzte Änderung: 20.07.2015